Nach der ATTAC-Rechtsprechung: Das Change.org-Urteil des FG Berlin-Brandenburg

Seit der zweiten Entscheidung des BFH in Sachen ATTAC mit Beschluss vom 10. Dezember 2020 – V R 14/20 – galt ein enger Begriff der Förderung des demokratischen Staatswesens. In einem vor kurzem veröffentlichten Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 14. November 2023 – 8 K 8198/22 – zeichnet sich nun eine neue Entwicklung ab.


Der Fall

Change.org entstand 2007 in den USA und widmet sich als Sozialunternehmen seit 2010 der Förderung der Bürgerbeteiligung durch Unterstützung von Personen bei der Erstellung und Durchführung von Petitionen. Die deutsche Niederlassung gründete 2016 einen eigenen gemeinnützigen Verein, welcher dann der deutsche Lizenznehmer von Change.org wurde. Satzungszweck des Vereins ist die Förderung des demokratischen Staatswesens; er befasst sich hierbei umfassend mit den demokratischen Grundprinzipien und würdigt diese objektiv sowie neutral und fördert in parteipolitisch neutraler Weise auf der Grundlage der Normen und Vorstellungen einer rechtsstaatlichen Demokratie politische Wahrnehmungsfähigkeit und politisches Verantwortungsbewusstsein. Laut Satzung wird dieser Zweck vor allem durch die Nutzung und Entwicklung von Möglichkeiten des Internets als Medium, die
Organisation und Durchführung von politischen Diskussionen, von Kampagnen und als Instrument zur politischen Beteiligung von Bürgern wie der Mitwirkung an der Entwicklung von politisch gewollten Vorschlägen und Gesetzesentwürfen verwirklicht. Nach der Satzung ist der Verein parteipolitisch neutral und verfolgt keine politischen Zwecke im Sinne einer einseitigen Beeinflussung oder Förderung einzelner politischer Parteien. Die satzungsmäßigen Voraussetzungen nach §§ 51, 59, 60 und 61 AO wurden mit Bescheid nach § 60a AO im Oktober 2016 festgestellt.

Anfang 2019 reichte der Verein beim zuständigen Finanzamt Berlin die Steuererklärung für die Jahre 2016 und 2017 ein. Dabei legte er auch einen Tätigkeitsbericht vor, in dem die Grundlagen der Vereinstätigkeit sowie der Finanzierung ausführlich und detailliert dargestellt wurden. Das Finanzamt Berlin erließ sodann für die Jahre 2016 und 2017 jeweils einen Körperschaftsteuerbescheid mit Festsetzung der Steuer auf null Euro. In der jeweiligen Anlage zu beiden Körperschaftsteuerbescheiden wurde die Anerkennung als gemeinnützige Organisation versagt. Als maßgeblicher Hauptgrund für die Versagung wurde vom Finanzamt ausgeführt, dass die Mittel des Vereins nicht für steuerbegünstigte Zwecke verwendet würden, da der Verein Petitionen an jedermann ermögliche. Der Verein diene nur dann der Förderung des demokratischen Staatswesens, wenn es sich um Petitionen im Sinne des Artikels 17 GG handle, also an staatliche Stellen und Volksvertretungen. Eine Zuordnung der übrigen Petitionen zum steuerpflichtigen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb scheide aus, da hierfür keinerlei Entgelte verlangt würden. Soweit der Verein Wissen zur Durchführung von Petitionen und Kampagnen vermittele, handle es sich um Berufs- und Volksbildung, dies sei aber kein verankerter Satzungszweck. Nach einem langwierigen und schlussendlich erfolglosen Einspruchsverfahren erhob der Verein Klage beim Finanzgericht Berlin-Brandenburg.
 

Die Entscheidung

Das Finanzgericht gab der Klage des Vereins statt, da der Verein tatsächlich seinen Satzungszweck der Förderung des demokratischen Staatswesens verwirklicht. Das Finanzgericht legt hierzu als erstes den Begriff der „Förderung des demokratischen Staatswesens“ aus und verweist hierzu auf die Entstehungsgeschichte des Begriffs. Die gemeinnützige Förderung des demokratischen Staatswesens ist gegeben, wenn sich eine Körperschaft umfassend mit den demokratischen Grundprinzipien befasst und diese objektiv und neutral würdigt. Ausgeschlossen werden hierbei insbesondere „Einzelinteressen staatsbürgerlicher Art“. Die Tätigkeit ist außerdem abzugrenzen von der „politischen Bildung“ nach § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AO. Das Finanzgericht versteht daher unter der Förderung des demokratischen Staatswesens das aktiv werbende Eintreten für die Grundsätze des demokratischen Staatswesens. Die Inhalte des demokratischen Staatswesens sind aus den Grundprinzipien des Grundgesetzes abzuleiten. Als tragende Säule des Staates erfasst das Demokratieprinzip freiheitliche, gewaltenteilende, rechtsstaatliche und sozialrechtliche Komponenten. Zum demokratischen Staatswesen gehören insbesondere Gewaltenteilung, freie geheime Wahlen, das Mehrparteiensystem, der staatliche Aufbau, der Föderalismus, die Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie die Grundrechte, insbesondere Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit. Der Verein muss sich aber nicht umfassend mit den demokratischen Grundprinzipien auseinandersetzen, es genügen auch Schwerpunktbildungen. Davon abzugrenzen ist die regelmäßige Verfolgung eigener politischer Zwecke. Die Tätigkeit des Vereins darf daher weder unmittelbar noch allein auf das politische Geschehen und die staatliche Willensbildung gerichtet sein. Hier verweist das Finanzgericht explizit auf die ATTAC-Rechtsprechung des BFH, wonach Körperschaften zur Förderung der Volksbildung des demokratischen Staatswesens in ihrer „politischen Bildung“ „geistig offen“ sein müssen und gerade nicht das Ziel verfolgen dürfen, Lösungsvorschläge für Problemfelder der Tagespolitik durchzusetzen.

Das Finanzgericht legt unter Orientierung an den grundrechtlich verbürgten Prinzipien, Rechten und Werten der Verfassung den Begriff der Förderung des demokratischen Staatswesens nun dahingehend aus, dass die Förderung die Ausübung von Grundrechten wie der Meinungsfreiheit sowie die Förderung der allgemeinen demokratischen Teilhabe umfasst. Die Demokratie erfordert gewisse Mindestanforderungen an die politische Willensbildung (freie Selbstbestimmung aller Bürger). Die Wähler müssen ihre politische Entscheidung aufgrund eines freien und offenen Prozesses der Meinungsbildung treffen können. Das demokratische Prinzip bedingt aber nicht nur die Partei- und Wahldemokratie, sondern erfordert generell den aufgeklärten Bürger. Demokratie ist nach Auffassung des Finanzgerichtes ohne Meinungs- und Versammlungsfreiheit daher nicht denkbar, damit fördert der Kläger das demokratische Staatswesen in seinem originären Kernbereich. Auch verwirft das Finanzgericht die Annahme der Finanzverwaltung, nur Petitionen nach Art. 17 GG seien umfasst, als zu eng. Die oben aufgezeigte Nähe zur Meinungsfreiheit lässt auch die Gesuche an jedermann umfasst sein. Die Tätigkeit des Vereins besteht zwar primär in der Zurverfügungstellung der Plattform, die durch eine erhebliche Reichweite und Bekanntheit der Marke entsprechende Nutzerzahlen hat. Darüber hinaus hat aber der Verein aktiven Nutzern entsprechende Unterstützung gewährt und für potenzielle Nutzer Leitfäden, FAQ und Schulungsvideos erstellt und zum Abruf bereitgehalten. Der Verein konnte durch seine Tätigkeitsnachweise auch belegen, dass er vielfältige Kampagnen ermöglicht und damit eine hinreichende geistige Offenheit gezeigt habe. Gleichzeitig hat der Verein immer klargestellt, dass er sich das Anliegen des jeweiligen Petenten nicht zu eigen gemacht hat, sondern nur Mittel und Wege für die Petenten zur Verfügung gestellt hatte. Der Verein ist im Vergleich zu analogen Kampagnen einem Verein zur Förderung der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit gleichzustellen. Das Finanzgericht sieht im Gegensatz zum Finanzamt in der Tätigkeit von Change.org auch keine Volksbildung, da der Verein keine Fortbildungsleistungen bezogen auf Grundrechte, insbesondere deren Gehalt und Grenzen, erbringe. Die Bildungskomponente bei der Erstellung von Gesuchen sei hier untergeordnet und nur eine mittelbare Folge.

Das Finanzgericht hat mit Blick auf die Auslegung des Begriffs des „demokratischen Staatswesens“ die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung und zur Fortbildung des Rechts zugelassen. Man darf gespannt sein, ob der BFH sich der Auffassung des Finanzgerichts anschließen wird.

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Steuerberaterin, Partnerin, Leitung KompetenzTeam Steuern Köln

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